Pessimismus pur 29.06.2022
Der Blick in die Wirtschaftsnachrichten ist derzeit nichts für zarte Gemüter: Jamie Dimon, Chef der größten US-Bank, sieht einen „Hurricane“ auf die Weltwirtschaft zurasen. Elon Musk, Tesla-Chef und reichster Mensch der Welt, hat ein „superschlechtes Gefühl“ und entlässt schon mal vorsorglich Teile der Belegschaft. Der bekannteste Hedgefonds-Manager der Welt, Ray Dalio, und Buffett-Partner Charly Munger sehen neben dem wirtschaftlichen Ungemach gar große gesellschaftliche Verwerfungen auf uns zukommen.
Und selbst Berufsoptimisten wie Wirtschaftsminister Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner schlagen Töne an, wie man sie von Regierungspolitikern selten zuvor gehört hat: Habeck warnt vor einem „Lehman-Moment“ für den deutschen Gasmarkt samt drohendem Kollaps der deutschen Industrie. Und Lindner schwört die Bevölkerung auf die schwerste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg ein, samt bis zu „fünf Jahren der Knappheit“.
Bei wem da als Anleger nicht unweigerlich der Fluchtreflex einsetzt, muss schon Nerven aus Stahl haben. Doch erstens ist Panik an der Börse ein schlechter Ratgeber. Und zweitens würde sich die Frage stellen: Wohin fliehen? Sein Geld auf dem Tagesgeldkonto zu parken, bringt angesichts Null- bzw. Strafzins und rund 8% Inflation nur eines ganz sicher: garantierten Wertverlust. Und kommt es wirklich so schlimm, wie prognostiziert, steht auch die Frage im Raum, wie sicher das Geld am Ende bei der Bank wirklich ist.
Aber kann man angesichts derart horrender Aussichten für die Wirtschaft ernsthaft überlegen, sein Geld per Aktien in eben diese potenziell einbrechende Wirtschaft zu investieren? Ich meine schon. Und zwar nicht, weil wir im IAC die Horrorprognosen nicht ernst nehmen würden – ganz im Gegenteil. Allerdings laufen Wirtschaft und Börse bekanntlich nicht parallel. Vielmehr eilt die Börse als Frühindikator der Wirtschaft regelmäßig voraus. Weil Anleger alle bekannten Informationen - so auch die aktuell katastrophalen Wirtschaftsaussichten - bereits heute in ihre Anlageentscheidungen einfließen lassen.
Das äußert sich so: Viele Unternehmen vermelden aktuell noch Rekordgewinne. Auch die Gewinnausschüttungen an Aktionäre haben jüngst weltweit ein neues Rekordhoch erreicht. Die Kurse hingegen spiegeln nicht diese äußerst positive Gegenwart wider, sondern bereits die miesen Zukunftsaussichten: Gemessen am Welt-Aktienindex MSCI World sind Aktien weltweit in den letzten Monaten bereits über 20% in den Keller gerauscht. Damit zählt das erste Börsen-Halbjahr 2022 zu einem der fünf schlechtesten seit der großen Depression 1930 – und das trotz Rekordgewinnen der Unternehmen. Die Börse hat ihren Job als Frühindikator also einmal mehr erfolgreich erledigt und bietet aktuell bereits Einstiegskurse auf Krisen-Niveau, auch wenn uns die eigentliche Krise in der Wirtschaft erst noch bevorsteht.
Haben wir den Tiefpunkt der Börse also bereits erreicht? Das hängt davon ab, wie sich die weiteren Aussichten entwickeln. Kommt es schlimmer als von Dimon, Musk & Co. erwartet und sollten sich die Horror-Prognosen von Habeck und Lindner noch als untertrieben herausstellen, wird die Börse diese Stimmungsverschlechterung einpreisen und nochmals fallen. Stellen die Horrorerwartungen für die Wirtschaft sich hingegen als zutreffend heraus, würde sich die von der Börse bereits eingepreiste Erwartung schlicht erfüllen – ohne Effekt auf die Kurse. Kommt es hingegen weniger schlimm als erwartet, würde die Börse die Stimmungsaufhellung einpreisen und steigen. Was genau uns die kommenden Monate bringen – noch schlechter, besser oder genauso schlecht wie erwartet – steht in den Sternen.
Sicher ist einzig, dass der aktuelle Pessimismus bereits eingepreist ist und deutlich reduzierte Einstiegskurse bietet. Und dass jede Krise einmal zu Ende geht und von einem Aufschwung abgelöst wird, der die Kurse auf neue Höchststände treibt. Den rechtzeitigen Einstieg verpasst zu haben, stellt sich im Nachhinein regelmäßig als das größte Risiko heraus.